Freitagabend 29-AUG-2014
Meine Unterkunft liegt an der Shouning Lu. Diese Straße bildet eine Institution für Street Food in Shànghǎi. Selbst in einem halben Kilometer Entfernung gegen den Wind kann man die Shouning Lu erschnüffeln. Sie nebelt ihre Umgebung in einen anregender Duft von Meersalz, Öl, scharfem Gewürz, Grillgut und so vielen mehr exotisch-fettigen Geruchsnoten. In der Shouning Lu werden verschiedene Schalentiere und teilweise “chinesisches Barbecue” aufgetischt. Es ist das Paradies für Schalentierliebhaber. Im Prinzip bietet fast jedes Straßenrestaurant hier die gleiche Auslegeware – meist auch zum gleichen Preis. Saisonale Krustentiere satt: Langusten, Shrimps, Krebse unterschiedlicher Gattungen, diverse Muscheln, Hummerschwänze … und mehr, was ich noch nicht identifizieren konnte. Alles frisch! Die verschnürten und in Kältestarre gehaltenen Krebse leben noch, die Langusten krabbeln sich gegenseitig über den Haufen in den Badewannen die neben dem Ständen stehen.
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Neonlichter der Shouning Lu
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Shouning Lu
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Shouning Lu
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Quicklebendige Langusten in Wanne neben eine Stand
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Rotgegarte Langusten unter Neonlicht
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Die weitere Auslegeware: Krebse, Krabben, Muscheln
Desöfteren wanderte ich nach der Arbeit oder an den vergangenen Wochenenden abends durch die im Neonlicht flackernden, von Krustentierabfällen verschmiert ölige Shouning Lu. Chinesiche Grillmeister brutzeln Spieße von Fisch oder Kalamaris, rühren in dampfenden Garbottichen oder bieten den Passanten lärmend ihre Ware feil. Wie so viele Fressgassen oder Straßenmärkte bietet auch die Shouning Lu eine Achterbahnfahrt für alle Sinne.
Hier eine Mahlzeit einzunehmen habe ich mir für einen besonderen Abend aufgehoben, also nach einer Arbeitswoche oder nach dem Training/Touren am Wochenende. An jenem Abend war es also soweit: Nach Akklimatisierung mit Straßenessen und noch vor einer Dusche folgt als Showdown für den Samstagabend ein Abendessen in der Shouning Lu. Um auf Nummer sicher zu gehen was Qualität und Minimalstandards an Hygiene angeht, suchte ich einen Stand, wo viele Besucher anstanden bzw. die Tische in den Räumen hinter dem Stand mit Besuchern gefüllt waren. Ich stellte mich also vor einen Stand mit roten-schillernden Langusten und kochbereiten Krabben. Überraschenderweise sprach ein Kunde in mittlerem Alter sogar englisch! Von ihm habe ich mir gleich die Preiskonditionen erklären lassen und daraufhin auch geordert. Was allerdings in der leicht lückenhaften Konversation unterging: Abgerechnet wird bei den Langusten nicht nach Stückzahl sondern nach “Yin” -> der chinesischen Gewichtseinheit für Pfund. Als ich also “qī” geordert habe von Krebs und Languste, kriegte ich auch einen Krebs, bei Langusten wurde mir allerdings ein halbes Kilo dampfend und pikant am Tisch serviert.
Dampfende Bleche voller feuerroter Langusten, die frisch aus dem blubbernden Sud des Kochbottichs gefischt wurden.
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toller Schnappschuss
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day-trading at Shouning Lu 😉
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Kleines Restaurant jeweils hinterm Stand
Überhaupt war der ganze Prozess des Abendessens ein Abenteuer. Während ich auf meine Bestellung wartete, wurde mir ein Platz zugewiesen und meine “Bewaffnung” bereitgestellt. Als Ausrüstung für das Mahl erhielt ich ein Schüsselchen von heller Sojasauce/Essig, eine kleine Metallwanne, Plastiküberzieher für die Hände und ein niedliches Paar Einweg-Essstäbchen … und die Wirtin warf mir einen herzlichen Blick zu der sagte: “Viel Glück, weitgereister Fremder!”
Am Nachbarstisch lärmte eine mittelgroße Familie bei eimerweise Langusten, gebratenem Gemüse, Muscheln etc. Hier konnte ich mir schon etwas abschauen, wie die Sache mit den Plastiküberziehern zum Pulen der Schalentiere funktionierte.
Schließlich wurde mein kleiner Bottich mit dem halben Kilo rotgegarter Langusten serviert. Gibt es im Knigge ein Kapitel über “Wie isst man Langusten”?
Nach einem meditativen Moment (-> och ja der Gefahrensucher – in was bin ich hier wieder hereingeraten) griff ich die erstbeste Languste und fragte mich beim Abtasten des warmen, fettigen Chitinpanzers: Welchen Trick muss man anwenden um möglichst sauber an die essbaren Stellen zu kommen? Die Chinesen an den Nachbartischen pulen kurz und saugen sie dann aus. Aber vorab: Welche Teile sind überhaupt essbar?
Es war wieder eine Lehrstunde in veterinärer Anatomie: Lektion 2.3 – Anatomie der Languste. Ich war gleichsam neugierig, als vorsichtig, ob ich mir vielleicht das Wochenende versaue, wenn ich ungenießbare Teile der Krustentiere mitesse … Prinzipiell sollte durch das Abkochen so ziemlich alle schädlichen Bakterien abgetötet worden sein. Nach 2-3 Langusten, die ich akribisch sezierte um an das schmackhafte weiße Fleisch zu kommen, verabschiedete ich mich vom Gedanken die Panzerung und Spinnenbeinchen sauber vom Fleisch zu tretten und aß einfach, was ich von der groben Schale trennen konnte: Chitin ist doch gesund, oder?
Wenig später wurde mir auch der Krebs am Tisch serviert – so we meet again buddy.
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Die Wahl der “Waffen”: Einmalhandschuhe und Essstäbchen
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Meditatives Arrangement – Rotgegarte Langusten und Sojasauce
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… so we meet again
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Stufe 1 – Wollhandkrabbe trifft ein
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Stufe 2 – Langusten vertilgt, Wollhandkrabbe wartet
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Stufe 3 – Langusten vertilgt, Wollhandkrabbe vertilgt
Wie ich später im Hotelzimmer auf wikipedia nachlies, handelte es sich allerding bei der shànghǎier Delikatesse der aktuellen Saison nicht um einen Flusskrebs, sondern um die chinesiche Wollhandkrabbe (mitten crab).
Tatsächlich fiel mir die wollige Schere auf, was ich zuerst für Dreck aus dem Yangtze hielt und erstmal liegen ließ:
1. Known as “hairy crab” (毛蟹) in English, the local name of the gourmet seafood is dazha xie, or big sluice crab (大闸蟹). Although it falls under the same family of hairy crab, only those heavier than 150 grams can be classified as dazha xie.
Chinesischer Name ähnlich der Metro-Station Dashijie an der ich einsteige, ich glaube hier nicht an einen Zufall, denn der Name der Station in chinesisch wird nahezugenauso geschrieben, wie die Krabbe: 大闸蟹 Krebs
Das beste zarte und weiße Fleisch an der Krabbe verbirgt sich jedoch in den Beinen und tatsächlich den schwer knackbaren Scheren. Die Mühe jene Scheren aufzubrechen wird mit einem kleinen, weiß-silbrigem aber wohlschmeckenden Fleischfetzen honoriert. Die eigentliche Delikatesse der Krabbe ist die innere gelbliche Flüssigkeit. Anfangs überlegte ich, ob man die überhaupt mitessen kann. Ich tat es – glücklicherweise 🙂
Der pulende Kampf durch die Chitinpanzer, Krabbenscheren und -beinchen fühlte sich an wie Stunden. Durch die praktische Beschäftigung mit Krustentieranatomie und Schlemmerei mit Langusten- und Krabbenfleisch trat auch ein wohliges Sättigungsgefühl ein. Nach dem Verschleiß von 3 Plastiküberziehern beim Genuss meines Yin Langusten und der kleinen Wollhandkrabbe, war ölig verschmiert, hatte fetzen von Krebsfleisch und Langustenpanzer zwischen den Zähnen aber war glücklich.
Noch später im Hotelzimmer haftete der herrliche Geruch von Chili-Öl, Salz, Paprika und diversen anderen Gerüchen die ich nicht zuordnen kann, aber ein unnahahmliches/beeindruckendes Barbecue-Boquet mit sich trägt. an meinen Händen und Klamotten
Mittlerweile habe ich auch aufgeholt, wie man Wollhandkrabbe im Restaurant isst – allerdings ist das schon gehobenes Niveau mit besseren Werkzeug als mein rustikel-barbarisches Essgelegenheit
http://www.culinarybackstreets.com/shanghai/2013/good-claws-hairy-crab-season/
Jetzt bin ich tatsächlich in der Shouning Lu angekommen. Nach 22 Uhr geht dort auf dem von zuckend animierter Neonreklame erleuchteten Asphalt nochmal richtig die Post ab.